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Martha Schabas

The Poetry of Place

A Pullman Draft is an idea. A provocation. A spark for conversation and an invitation to think differently. Welcome to Pullman Drafts, a series of personal reflections with the House of Beautiful Business, featuring bold voices from business, culture, media, and technology.

In diesem Draft befasst sich die Autorin und Redaktionsleiterin Martha Schabas mit den Werken der Künstlerin Sagarika Sundaram und deckt auf, wie Kunst und Design uns wieder mit der Natur verbinden und unser Selbstbewusstsein stärken können. Tauchen Sie in diese Gedankenwelt ein und entdecken Sie Ihre kreative Verbindung zur Natur.

Vielleicht hatten Sie als Kind ein Baumhaus, von wo aus Sie die ganze Nachbarschaft überblicken konnten und sich so uralt fühlten wie die Wurzeln tief unter Ihnen. Oder vielleicht gibt es eine Hütte am Meer, wo Sie gerne Wein trinken und über die Weite des Ozeans sinnieren. Orte, die sowohl wild als auch gezähmt, natürlich und kultiviert sind, haben etwas Magisches an sich. Sie unterstreichen unsere Verbindung zur Erde und erinnern uns daran, dass wir Teil von etwas sind, das älter ist als unsere Städte, Wolkenkratzer und Denkmäler.

 

Als ich letzten Sommer bei 30 Grad vor dem Panthéon in Paris stand, schenkte eine Fremde meinem dreijährigen Sohn eine Metrofahrkarte. Ein Andenken für zu Hause, erklärte die Frau und fügte hinzu, dass die 120 Jahre alten Fahrkarten zugunsten neuer Smartcards aus dem Verkehr gezogen werden. Mein Sohn steckte die Fahrkarte in seine Tasche und vergaß sie sofort. Ich aber nicht – ich fischte das Ticket später am Abend aus seinen Shorts. Was für meinen dreijährigen Sohn uninteressant war, steckte für mich voller Erinnerungen.

 

Vor zehn Jahren zog ich nach Paris, um meinem Leben für eine Weile zu entfliehen und meinen Roman fertig zu schreiben. Ich mietete eine Wohnung im 18. Arrondissementt, nördlich vom belebten Montmartre. Von meinem Schreibtisch aus schaute ich auf einen alten Innenhof mit einer Robinie, die sich ihren Weg durch das Kopfsteinpflaster gebahnt hatte. An sonnigen Tagen öffnete ich die Balkontür und schob meinen Schreibtisch bis an das Gitter. So saß ich weder drinnen noch draußen, sondern genau dazwischen. Ich habe mich schon immer zu Räumen hingezogen gefühlt, in denen es kaum eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen gibt. Diese Zwischenwelten haben etwas Beruhigendes und zugleich Anregendes an sich, und das Wetter wirkt sich auf meine Stimmung aus. Als Schriftstellerin sehne ich mich nach dieser Nähe zur Unberechenbarkeit der Natur. Ich würde jedoch niemals so weit gehen, mir einen Arbeitsplatz im Freien einzurichten. Mich inspiriert die Spannung zwischen dem Innen und Außen.

Mein Interesse an dieser Spannung hat mich zu Sagarika Sundarams beeindruckenden Werken geführt. Sagarika ist eine in Indien geborene und in New York City lebende Bildhauerin und Künstlerin, die eine traditionelle Filztechnik einsetzt, bei der Rohwolle von Hand gefärbt und mit Seifenwasser befeuchtet wird. Sie schafft daraus komplexe, texturierte Strukturen, die vom Boden empor ragen, von der Decke hängen, Bäume umhüllen oder Spalten zwischen Felsbrocken ausfüllen. Sie ist fasziniert von der Untrennbarkeit von Mensch und Natur und von der Spannung zwischen dem Innen und dem Außen. „Die Natur ist tief in meiner Psyche verankert“, erzählt sie mir. „Ich liebe es, Dinge aufzuschneiden – Geoden, Kristalle, Blumen. Es ist so geheimnisvoll, was sich im Inneren verbirgt“, erklärt sie.

Wir unterhalten uns an einem sonnigen Herbstnachmittag per Zoom. Ich bin in Toronto und sie ist in einem ihrer drei Studios in Manhattan. Als wir über ihre Arbeit sprechen, möchte sie mir unbedingt Fotos von aktuellen Ausstellungen zeigen und bleibt bei einem farbenfrohen Wandbild aus Stoff, Rohwolle und herunterhängenden Fäden stehen. In der Mitte befindet sich eine ovale Form, die von einem Netz aus an Adern erinnernden Drähten umgeben ist. „Ich fühle mich zu abstrakten Formen hingezogen, die auf verschiedenste Weise interpretiert werden können – das hier könnte eine fleischfressende Pflanze oder ein Augapfel sein“, sagt sie mit einem Lächeln. „Meine Werke befassen sich mit unserer Beziehung zu den Dingen, die sich nicht zähmen lassen. Ich glaube, sie fangen einen Aspekt der Natur ein, der wild und verführerisch ist, was in gewisser Weise die menschliche Natur widerspiegelt.“

Portale zu anderen Welten

Sagarika ist sich bewusst, dass ihre Faszination für die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt bereits in ihrer Kindheit begann. Sie wurde in Kalkutta geboren, zog während ihrer Kindheit und Jugend häufig um und musste sich immer wieder an sehr unterschiedliche Landschaften gewöhnen. Als Kind lebte sie mit ihrer Familie in Dubai, das damals noch nicht die Metropole war, die es heute ist, sondern eine „städtische Wüste“, umgeben von sandiger Ödnis, mit warmen Wintern und extrem heißen Sommern. Dann kehrte sie nach Indien zurück, um eine alternative Internatsschule in einem grünen Tal im Süden zu besuchen, was ihre Kreativität zutiefst inspirierte. „Es war das erste Mal, dass ich von so viel Natur umgeben war“, sagt sie. „Das Tal war ein ganz wichtiger Ort für unsere Entwicklung. Wir sind oft in den Bergen wandern gegangen – das war ein wesentlicher Bestandteil unseres Unterrichts.“

 

 

In der Schule entwickelte Sagarika ein Ritual in der Natur, das prägend für sie war. Jeden Tag stellte sie sich unter einen hohen Amaltasbaum und spürte dort für einige Minuten pure Freude. „Der Baum hatte leuchtend gelbe Blätter, die im Licht atemberaubend aussahen und wunderschöne flackernde Schatten warfen“, sagt sie. Als eine Freundin sie bei ihrem Ritual beobachtete und fragte, worüber sie denn so lache, war Sagarika das überhaupt nicht peinlich. Sie fühlte sich verstanden. „Meine Freundin sagte zu mir, dass diese nicht greifbaren Momente des Glücks real sind“, erklärt sie.

 

 

Heute arbeitet Sagarika in einem Atelier des Silver Arts Project im 28. Stock des Four World Trade Center. Durch die großen Fenster blickt man auf die 9/11-Gedenkstätte und den Hudson River. Hier erreicht die Spannung zwischen Mensch und Natur einen poetischen Höhepunkt. Hoch über der Glas- und Betonlandschaft von Lower Manhattan arbeitet Sagarika nach alter Tradition und verwandelt riesige Mengen roher, flauschiger Fasern in Stoff. Sie befindet sich in einer Phase intensiven künstlerischen Wachstums – ein weiteres Spannungsmoment im Hinblick auf die überfüllte Stadt unter ihr. „New York ist gewissermaßen das exakte Gegenmodell von Raum“, sagt sie. „Aber auch das interessiert mich. Zwischen New York und Indien führe ich zwei Leben, die von Kreativität, Verbindungen, Freundschaften und Freude geprägt sind. Das eine würde ohne das andere nicht funktionieren. New York wäre irgendwann sehr beengend für mich, und Indien bringt auch seine Herausforderungen mit sich. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese beiden florierenden Ökosysteme der Kreativität und des Schaffens habe“, erklärt sie.

 

 

Seit Neustem verlegt Sagarika ihre Kunst auch ins Freie, um auszuprobieren, wie sie in weniger kontrollierten Umgebungen funktioniert. Sie interessiert sich zunehmend für Architektur und schafft Räume, die die Betrachter begehen und physisch erleben können. Sie zeigt mir ein Foto von einem Werk mit dem Titel „Passage Along the Edge of the Earth”, ein zeltartiges Gebilde aus einem einzigen Stück Stoff mit körniger Struktur, das sie aus mehreren Lagen Himalaya-Wolle gefilzt hat. Sie erklärt mir, dass buddhistische Stupas die Inspiration dazu lieferten und sie den Wunsch hatte, die kinetische Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und einer konstruierten Struktur zu erforschen. „Ich möchte sehen, wie Menschen mit meinem Werk interagieren und Portale zu anderen Welten erschaffen“, erklärt sie.

Die Natur integrieren, um das Wohlbefinden zu steigern

Sagarikas Interesse an der Schnittstelle zwischen Mensch, Struktur und Umwelt erinnert an alte Traditionen in den Bereichen Architektur und Design. Der Architekt Frank Lloyd Wright war stark von den Formen und Mustern inspiriert, die in Landschaften, Licht und Wasser vorkommen. Seine Häuser und Gebäude sollten Tempel des Wohlbefindens sein, die in perfekter Harmonie mit der Welt existieren, die sie umgibt. Er forderte seine Studierenden auf, „die Natur zu analysieren, die Natur zu lieben und der Natur nahe zu bleiben“, und betonte, dass sie sie niemals im Stich lassen würde. Eines seiner berühmtesten Gebäude, das Guggenheim Museum in New York City, soll angeblich einer Nautilusmuschel nachempfunden sein, während das Oberlicht der Rotunde an die strahlenförmige Symmetrie eines Spinnennetzes erinnert.

 

 

Architektur, die einen positiven Kontakt zwischen Mensch und Natur herstellt, erlebt derzeit eine Renaissance. Biophiles Design – ein Ansatz, bei dem die Natur als Quelle der Ruhe, Produktivität und des Wohlbefindens eingesetzt wird – hat viele bemerkenswerte neue Räume und Gebäude inspiriert, von New Yorks High Line und der Promenade Plantée in Paris bis hin zum Apple Park im Silicon Valley und dem von 20.000 Pflanzen bedeckten Bosco Verticale in Mailand. Die Biophilie postuliert, dass es Menschen am besten geht, wenn ihr Leben mit der Natur im Einklang steht. Diese Erkenntnis geht auf die prähistorische Zeit zurück und beruht auf der Tatsache, dass sich die Menschheit über Jahrtausende hinweg in Anpassung an die natürliche Welt entwickelt hat, während unsere Reaktion auf von Menschen geschaffene Konstrukte nur einen winzigen Teil der Geschichte unserer Spezies ausmacht. Die Idee dahinter ist, dass wir uns am wohlsten fühlen, im Einklang mit uns selbst und unserer Umgebung, wenn die Räume, die wir nutzen, diese fließende, dynamische und symbiotische Beziehung zur Natur widerspiegeln.

 

 

Einige Zeit nach meinem Gespräch mit Sagarika fand ich die Pariser Metro-Fahrkarte wieder, die ich in mein Tagebuch gesteckt hatte. Es ist nur ein dünnes Stück Pappe, aber es übt eine starke Wirkung auf meine Erinnerung aus und bringt eine Flut von Bildern und Gefühlen zurück. Ich fahre mit dem Finger über den Magnetstreifen und befinde mich wieder auf meinem Balkon im 18. Arrondissement, mit Blick auf den Innenhof, das Kopfsteinpflaster und die Robinie. Das Gefühl, zwischen Innen und Außen zu schweben, hat eine transformierende Wirkung auf mich – ich fühle mich ruhig und inspiriert und verspüre den Drang zu schreiben.

 

 

In letzter Zeit habe ich Wege gefunden, dieses Gefühl auch an normalen Tagen in meine Stimmung zu integrieren. An meinem Schreibtisch in Toronto versuche ich, meine Umgebung mit anderen Augen zu sehen, indem ich an Sagarikas Faszination für das, „was sich im Innern verbirgt“ denke. Ich schaue aus meinem Fenster und stelle mir vor, wie ich alles aufbreche, um tiefere Wahrheiten über die Natur zu erfahren – die welkenden Geranien in meinem kleinen Garten, den Stamm meines Zierapfelbaums, die mit Laub bedeckte Erde, die bald den ersten Frost erfahren wird. Man könnte sagen, dass ich versuche, in meiner Arbeit und ganz allgemein in meinen täglichen Aufgaben die Poesie der Orte zu finden, indem ich die Welt genauer betrachte. Ich möchte sehen, ob meine Aufmerksamkeit dem Alltäglichen etwas Außergewöhnliches verleihen kann. Ich habe einige Techniken und Ideen gefunden, die mir momentan helfen. Bestimmt werden sie auch bei Ihnen für Inspiration sorgen.

Über die Autorin

Sagarika Sundaram ist eine in New York lebende Bildhauerin und Künstlerin, die Installationen aus natürlichen Rohfasern und Farbstoffen herstellt. Unter anderem wurden ihre Werke in folgenden Museen und Galerien ausgestellt: Bronx Museum of the Art, NY, USA; Al Held Foundation with River Valley Arts Collective, Boiceville NY, USA; Moody Center for the Arts at Rice University, Houston, TX, USA; British Textile Biennial, Liverpool, Vereinigtes Königreich; Chicago Architecture Biennial; Nature Morte Gallery, Neu-Delhi, Indien und Palo Gallery, NYC, USA. Ihre Arbeiten wurden in der New York Times und im Magazin ARTnews rezensiert. Sundaram hat einen Master of Fine Arts in Textildesign von der Parsons School of Design/The New School, NY, erworben. Sie studierte am NID in Ahmedabad und am MICA in Baltimore. Sie ist Gastkünstlerin des Sharpe Walentas Studio Program in New York City. Sundaram wird von Nature Morte (Indien) und Alison Jacques (Vereinigtes Königreich) vertreten.

 

Martha Schabas ist die Redaktionsleiterin von House of Beautiful Business. Sie hat außerdem die beiden Romane „My Face in the Light“ (2022) und „Various Positions“ (2011) verfasst. Zuvor war sie Tanzkritikerin bei The Globe and Mail, Kanadas größter überregionaler Zeitung, wo sie auch über Theater und Literatur schrieb. Ihre Essays, Kunstkritiken und Kurzgeschichten sind in zahlreichen Publikationen erschienen.

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