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Till Grusche and Anna Tréa

A Breath Between Notes

A Pullman Draft is an idea. A provocation. A spark for conversation and an invitation to think differently. Welcome to Pullman Drafts, a series of personal reflections with the House of Beautiful Business, featuring bold voices from business, culture, media, and technology.

Erfahren Sie, was uns musikalische Improvisation über die Zusammenarbeit im Geschäftsleben lehren kann – aus der Perspektive der Multi-Instrumentalistin Anna Tréa.

 

Man ist oft zutiefst beeindruckt vom Improvisationstalent, das Jazzmusiker an den Tag legen, wenn sie unfassbar virtuose Melodien spielen, ohne vorher geprobt zu haben. Talent ist dabei aber nur einer von vielen Faktoren. Gutes Improvisieren erfordert eine Reihe von Fähigkeiten, die jeder erlernen und im Berufsleben erfolgreich einsetzen kann.

Ich habe Anna Tréas Musik zum ersten Mal in einer verrauchten Bar in Barcelona gehört. Als ich durch die Bar ging, erregte ein ungewöhnlicher Rhythmus meine Aufmerksamkeit – gefühlvoll und jazzig, kombiniert mit dem warmen Klang einer Altstimme. Ich folgte der Melodie durch den Raum und sah Anna, die auf einem Hocker in einer beleuchteten Ecke saß und Gitarre spielte. Der Mann neben ihr begleitete sie am Keyboard. Zwischen den Liedern unterhielten die beiden sich ungezwungen miteinander und erzählten dem Publikum, dass sie sich gerade erst kennengelernt hätten. Es gab keine Diskussion darüber, was als Nächstes gespielt werden sollte. Er oder sie begann einfach, eine Melodie zu spielen, und der/die andere nahm ohne zu zögern den Faden auf, fügte eine Harmonie hinzu oder stimmte einfach mit ein. Die Chemie zwischen den beiden war elektrisierend. Ich hatte das Gefühl, ein intimes Gespräch zu belauschen.

 

 

 

Es war eine intensive und dennoch mühelose Zusammenarbeit, wie ich sie selbst beim Musikmachen auch schon erlebt habe. Vor meiner Karriere als Führungskraft war ich Frontmann einer Punkband aus Konstanz am Bodensee, in der Nähe der Schweizer Grenze. Konstanz ist eine malerische Stadt mit einer gut erhaltenen Altstadt. Wunderschön, aber konservativ – ein ungewöhnlicher Ort für Punk. Da es nur wenige coole Musiklokale gab, wurde meine kleine Wohnung zum Treffpunkt für die aufstrebenden Musiker der Stadt. Wir blieben oft bis zum Morgengrauen auf, komponierten Songs, experimentierten mit neuen Techniken und entwickelten gegenseitig unsere Ideen weiter. Ich erinnere mich, wie ich bei Sonnenaufgang ins Bett kroch, noch immer voller kreativer Begeisterung.

 

 

 

Und dann änderte sich mein Leben. Ich verließ Deutschland und zog ins Silicon Valley. Die Gitarristen und Schlagzeuger, mit denen ich früher meine Abende verbracht hatte, wurden durch Technik-Nerds und angehende CEOs ersetzt. Bekanntermaßen brauchen Künstler Austausch und verkümmern in Isolation, und so fand das Punk-Kapitel meines Lebens innerhalb weniger Monate sein Ende. Ich habe aber niemals aufgehört, mich wie ein Musiker zu fühlen. In Besprechungen bemerkte ich, dass ich meinen Kolleginnen und Kollegen mit derselben Neugier und Sensibilität zuhörte, die ich in meiner Jugend bei den nächtlichen Jam-Sessions an den Tag gelegt hatte. Lustigerweise war sogar meine Körperhaltung dieselbe wie früher, wenn ich meinen Freunden beim Gitarrespielen zuhörte: Ich lehnte mich immer in Richtung der sprechenden Person, mit nach oben gerichteten Handflächen – eine Haltung, in der ich mich fokussiert, aufmerksam und empfänglich fühlte. Ich habe diesen Gewohnheiten nie wirklich viel Bedeutung beigemessen und sie für persönliche Eigenheiten gehalten. Aber dann erzählte mir Anna, wie sie Musikerin wurde und ihre Stimme als Künstlerin fand.

Musik ist eine Sprache des Zuhörens

Anna wuchs in São Paulo in Brasilien auf und bekam schon früh eine Menge Kultur mit. Als Kind hatte sie die Möglichkeit, an einer Vielzahl kostenloser Kurse im örtlichen Gemeindezentrum teilzunehmen, die Teil einer staatlichen Initiative waren. So konnte sie Vieles ausprobieren und herausfinden, was sie inspirierte. Sie studierte Poesie, Gesang, Akustikgitarre und verschiedene Tanzstile, darunter Hip-Hop, zeitgenössischen Tanz, Breakdance und afrikanisch-brasilianischen Tanz. Sie fand es faszinierend, dass sie sich durch Klänge und Bewegungen ausdrücken konnte.

 

 

 

In ihren frühen Zwanzigern gründete Anna mit zwei Freunden – einem Bassisten und einem Schlagzeuger – ein Trio, und sie begannen, in einer Strandbar außerhalb der Stadt aufzutreten. Die Bar lag direkt an der Straße und ihre Musik wurde manchmal vollständig von dröhnenden Motoren und hupenden Autos übertönt. Manche Künstler wären darüber verärgert gewesen, aber Anna nicht. Geräusche waren für sie interessant, egal ob organisch oder künstlich, absichtlich oder unbeabsichtigt. Anstatt die Hintergrundgeräusche als Störung oder Hindernis zu betrachten, experimentierte das Trio damit, sie in ihre Musik zu integrieren.

 

 

 

Diese Spontanität wurde zu einem Markenzeichen der Auftritte des Trios und entwickelte sich zu einer Art von Körper-Percussion. Manchmal gingen Anna und ihre Bandkollegen ins Publikum und nutzten Tische und Stühle als Requisiten. Sie erinnert sich noch daran, wie ihr Schlagzeuger eines Abends mit seinem Trommelstock auf ein Glas mit einer Kerze schlug, was einen wunderschön vibrierenden Klang erzeugte, bis das Glas zerbrach. „Das war ein verrückter Moment“, erzählt sie mit einem Lächeln. „Aber wir haben einfach weitergespielt. Es wurde Teil unseres Acts.“

 

 

 

Improvisation und Körperlichkeit wurden zu zentralen Aspekten von Annas Musik. Als wir an diesem Abend in Barcelona nach ihrem Auftritt darüber sprachen, erzählte sie mir, dass weder das Komponieren noch das Performen für sie rationale Prozesse sind. „Ich nehme mit meinem Körper alle Informationen auf und lasse mich davon leiten.“ Dabei ist für sie wesentlich, dass sie mit Musikern zusammenarbeitet, zu denen sie eine natürliche Verbindung hat, eine echte „künstlerische Affinität“, wie sie es nennt. „Es bedeutet, dass ich einfach mit offenem Herzen zuhöre und jedem Impuls vertraue, der in mir aufkommt. Es hat alles sehr viel mit Intuition zu tun.“ Ich verstand genau, was sie meinte. Allerdings setzte ich diese Techniken nicht mehr für die Musik ein, sondern um im Geschäftsleben erfolgreich zu sein.

In schwierigen Situationen improvisieren

Ich habe das große Glück, ein Unternehmen gemeinsam mit meinem langjährigen Freund Tim zu führen, dem ich vertraue und den ich so gut kenne, dass ich oft schon weiß, was er sagen wird, bevor er es ausspricht. In herausfordernden Situationen, beispielsweise bei einer Kundenpräsentation, die aus dem Ruder läuft, oder wenn wir unserem Team schlechte Nachrichten überbringen müssen, habe ich festgestellt, wie viel unsere Fähigkeit, einander zu verstehen, wert ist. Mit Tim an meiner Seite kann eine Präsentation zu einem dynamischen Duett werden.

 

 

 

Ein Beispiel, das mir hier spontan einfällt, ist ein Konzept, das wir in der Anfangsphase unseres Unternehmens für eine traditionsreiche Marke ausgearbeitet hatten. Die Marke war anders als die, mit denen wir normalerweise zusammenarbeiten. Sie war altmodisch und konservativ, seit hundert Jahren marktführend in ihrem Nischenbereich, mit einem Kundenstamm, der Wert auf Beständigkeit und Tradition legte. Wir haben den typischen Anfängerfehler gemacht, ihnen das zu geben, was sie unserer Vermutung nach wollten – also ein Konzept, das ihren üblichen Inhalten entsprach. Stattdessen hätten wir uns fragen sollen, warum sie gerade uns beauftragt haben. Als fortschrittliches Start-up-Unternehmen mit einem Ruf für innovative Arbeit hätte uns klar sein müssen, dass sie nicht zu uns gekommen waren, um ihrem üblichen Stil treu zu bleiben.

 

 

 

Nach der Hälfte der Präsentation merkte ich, dass die Idee nicht gut ankam. Ich schaute Tim an und wusste, dass ihm das ebenfalls aufgefallen war. Also machte ich eine Kehrtwende. „Wir hätten da übrigens noch eine etwas ausgefallenere zweite Idee“, sagte ich. Als ich sah, wie die Augen der Teilnehmer aufleuchteten, begann ich zu sprechen, ohne wirklich zu wissen, worauf ich eigentlich hinauswollte, und machte allgemeine Bemerkungen darüber, dass Geheimnisvolle, Rätselhafte und Unbeschreibliche in ihrer Marke zu finden. Ich war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, als Tim sich mit einer brillanten Idee einschaltete. Er bat die Führungskräfte, ihre „geheimen Fantasien“ für die Marke auf einen Zettel zu schreiben, und als wir diese dann laut vorlasen, entstand eine äußerst anregende Diskussion darüber, in welche Richtung die Kampagne gehen könnte.

 

 

 

Es war eine Kombination verschiedener Fähigkeiten, die uns den Auftrag eingebracht hat. Wir hatten die falsche Präsentation vorbereitet, aber durch Zuhören, Beobachten der Situation, gegenseitiges Reagieren und indem wir offen, aufmerksam und in Bereitschaft blieben, konnten wir die Präsentation in eine bessere Richtung lenken und den Deal retten. Man hat oft die Tendenz, das Geschäftsleben als reine Kopfarbeit zu betrachten – Logik, Strategie, Analyse, Wissen, kritisches Denken und solide Erfahrung. Aber dieser Auftrag hat mich wieder daran erinnert, dass meine Arbeit auch sehr körperlich und somatisch sein kann. Sie erfordert auf subtile Weise viele der Soft Skills und Instinkte, die beim Jammen und Komponieren mit meinen Freunden eine so entscheidende Rolle gespielt haben.

Körper und Seele

Da ich mir nun dieser Verbindung zwischen meinem früheren Leben als Musiker und meinem aktuellen Leben als Unternehmensleiter bewusst bin, bemühe ich mich aktiv darum, diesen Kanal offen zu halten. In Besprechungen, Verhandlungen und Präsentationen erinnere ich mich daran, nicht immer schon vorauszudenken, sondern im Moment zu bleiben, aufmerksam zuzuhören und genau auf alles zu achten, was im Raum geschieht.

 

Für mich ist es enorm wichtig, dass ich mich von meinen Gedanken lösen und mich emotional und körperlich erden kann. Ich habe festgestellt, dass Biofeedback-Übungen und Körperbewusstsein meine Fähigkeit verbessern, mich anzupassen, zuzuhören und schnell zu reagieren, wenn es erforderlich ist. Je mehr ich auf die Signale meines Körpers achte, desto leichter fällt es mir, präsent und konzentriert zu bleiben und effektiv zu arbeiten – also die Musik zu hören und meine eigene Melodie einzubringen. Hier sind ein paar hilfreiche Techniken:

 

 

1. Kampf, Flucht … oder einfach atmen? Wenn wir von neuen Informationen überrascht werden, kann uns das sehr nervös machen. Der Puls schnellt in die Höhe und viele Menschen (ich gehöre auch dazu) verspüren ein Engegefühl in der Brust. Um die neuen Informationen zu verarbeiten, zu verinnerlichen und eine andere Richtung einzuschlagen, muss man sich erden. Ich achte auf meinen Atem. Ich atme tief und konzentriert, um mein Nervensystem zu beruhigen und mich zu entspannen. Dann bin ich in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen und neugierig zu bleiben. Mit beiden Füßen fest auf dem Boden kann ich mit der plötzlichen Planänderung optimistisch und proaktiv umgehen.

 

 

2. Hören Sie aktiv zu, um zu verstehen, und antworten Sie nicht einfach so – aktives Zuhören erfordert volle Aufmerksamkeit, was sich wie eine subtile, aber bedeutende Veränderung der Energie anfühlen kann. Wenn Sie sich wirklich darauf konzentrieren, was die andere Person sagt, wird es in Ihrem Kopf ruhig. Sie werden möglicherweise feststellen, dass sich Ihre Körperhaltung entspannt, wenn Sie sich darauf konzentrieren, wirklich zuzuhören – ohne Verspannungen im Kiefer, im Nacken oder in den Schultern. Diese Haltung entspannt Sie nicht nur, sondern entschleunigt auch. Im Geschäftsleben habe ich festgestellt, dass aktives Zuhören für wesentlich mehr Vertrauen, Wohlwollen und Zuversicht sorgt. Ich bin der Ansicht, dass es meine emotionale Intelligenz verbessert, wodurch es mir leichter fällt, überlegt und unterstützend zu reagieren und eine tiefere Verbindung aufzubauen.

 

 

3. Keine Angst vor Unvorhergesehenem – so wie ein Jazzmusiker um einen falschen Ton herum improvisiert, finden Führungskräfte, die „Unfälle“ und Fehler akzeptieren, auf diesem Weg oft neue, unerwartete Lösungen. Diese Momente bieten Ihnen die Gelegenheit, sich anzupassen, dazuzulernen und kreative Wege zu entdecken, die Sie zuvor möglicherweise nicht in Betracht gezogen hätten. Indem Sie Ihre Perspektive ändern und sich mit dem Unerwarteten anfreunden, entwickeln Sie eine Denkweise, die es Ihnen ermöglicht, offen, flexibel und innovativ zu bleiben – dies sind wichtige Eigenschaften erfolgreicher Führungskräfte. Fehler bedeuten nicht, dass man versagt hat. Sie sind Teil einer wunderschönen Improvisation, die zu unerwarteten Durchbrüchen führt.

Über den Autor

Anna Tréa ist eine brasilianische Sängerin, Gitarristin, Komponistin und Multiinstrumentalistin, die für ihre beeindruckende Bühnenpräsenz und ihre einzigartige Percussion-Technik bekannt ist, bei der sie Gitarre, Bass und Body Percussion miteinander verbindet. Ihr Afro-Pop-Sound verbindet afrikanisch-brasilianische Rhythmen mit internationaler Popmusik und tiefgründiger, bedeutungsvoller Poesie. Sie hat mit einigen der einflussreichsten Künstler Brasiliens zusammengearbeitet, war Musikdirektorin der Women’s Music Event Awards und trat regelmäßig in einer der beliebtesten Late-Night-Fernsehsendungen Brasiliens auf. 2023 nahm sie an der spanischen Version der Castingshow „The Voice“ teil und trat bei der WOMEX auf, der weltweit bedeutendsten internationalen Musikmesse. Anna lebt zurzeit in Europa und arbeitet an ihrem zweiten Album.

 

Till Grusche ist ein Unternehmer mit fast zwanzig Jahren Erfahrung in den Bereichen globales Marketing und Geschäftsentwicklung. Bevor er 2017 das Unternehmen House of Beautiful Business mitbegründete, war Till unter anderem bei führenden Designagenturen und Beratungsunternehmen für Digitalisierung in Amsterdam, San Francisco, London, Berlin und München tätig. Till war außerdem CMO bei Carpooling, der damals mit über sechs Millionen Nutzern größten Mitfahrzentrale Europas. Er ist immer noch Sänger in derselben Punkrockband, die seit 1996 darauf hofft, eines Tages berühmt zu werden.

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